Wahlen in Deutschland bis 1918
Reichsorgane
Bundesrat

Aufgaben des Bundesrats und seine Rolle im Verfassungsgefüge 1867-1918

Der Reichsverfassung (RV) vom 16.4.1871 (insoweit identisch mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 26.7.1867, VdNB) bezeichnete in ihrer Präambel das Deutsche Reich (bzw. in der VdnB den Norddeutschen Bund) als einen "ewigen Bund", geschlossen von den Monarchen von insgesamt 25 Staaten. Die Gebiete dieser 25 Bundesstaaten bildeten gem. Art. 1 RV das Bundesgebiet. Dadurch waren die Bundesstaaten als "Mitglieder des Bundes" im Sinne von Art. 6 RV im Bundesrat vertreten. Lt. Art.5 I 1 RV (Art. 5 I 1 VdNB) bildete der Bundesrat gemeinsam mit dem Reichstag die Legislative des Deutschen Reichs (bzw. des Norddeutschen Bundes). Lt. Art.5 I 2 RV (Art. 5 I 2 VdNB) waren Bundesrat und Reichsrat bei der Gesetzgebung gleichberechtigt: "Die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlung [d.h. der beiden Kammern Bundesrat und Reichstag] ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend." Entsprechend bestimmte Art. 7 I Nr. 1 RV für den Bundesrat, dass dieser über alle dem Reichstag "zu machenden Vorlagen und die von demselben gefaßten Beschlüsse" beschloss (gem. Art. 37 VdNB explizit nur in Zoll- und Handelsfragen). Dazu kamen nach Art.7 I Nr.2 RV das alleinige Recht des Bundesrats über Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen zur Ausführunge der Reichsgesetze zu bestimmen, falls dies nicht schon unmittelbar per Reichsgesetz (und damit ebenfalls unter seiner Mitwirkung) geschah; und nach Art.7 I Nr.3 RV über "Mängel" bei der Ausführung der Reichsgesetze, Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen zu beschließen, also ein Aufsichtsrecht. Der Bundesrat ermöglichte damit den Bundesstaaten den Buchstaben der Verfassung nach insbesondere die Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Jedoch unterschieden sich Möglichkeiten der die einzelnen Mitglieder des Bundesrats zur Einwirkung auf die Gesetzgebung erstens erheblich voneinander. Und zweitens unterschied sich auch die Praxis, mit der eine Bundestagsmehrheit auf die Gesetzgebung einwirkte, erheblich von dem Vorgehen des Reichstags bzw. einer Reichstagsmehrheit. Für den Reichstag war dies in der Geschäftsordnung des Reichstags (GORT) geregelt, die sehr stark der heutigen Geschäftsordnung des Bundestags ähnelt. Dort waren die Abgeordneten bzw. die Fraktionen die bestimmenden Akteure. Sie mussten sich lt. Art.28 I 1 RV (Art.28 I 1 VdNB) für jeden Beschluss des Reichstags zu einer Mehrheit zusammenfinden. Nach GORT gab es dann zwei Möglichkeiten, wie eine solche Reichstagsmehrheit ein Gesetz herbeiführen konnte. Entweder wurde ein Gesetzentwurf aus der Mitte des Reichstags als Antrag eingebracht ("Initiativantrag"), in 1. Lesung beraten, dann ggf. in einen Aussschuss verwiesen, dort mit einem Bericht und ggf. Änderungsvorschlägen versehen, in 2. Lesung beraten und ggf. geändert, dann in 3. Lesung erneut beraten, ggf. geändert und angenommen; und schlussendlich dem Bundesrat vorgelegt. Wenn der Bundesrat diesem in 3. Lesung des Reichstags angenommenen Gesetzentwurf zustimmte, war das Gesetz zustande gekommen und konnte gem. Art.17 S.1 RV vom Kaiser (gem. Art.17 S.1 VdNB vom Präsidium) ausgefertigt und verkündet werden. Oder anstelle eines Initiativantrags legte der Bundesrat dem Reichstag einen Gesetzentwurf vor ("Bundesratsvorlage"). Dann musste vorgegangen werden, wie bei Initiativanträgen - allerdings entfiel evtl. der dortige letzte Schritt zum Zustandekommen eines Gesetzes, da der Beschluss des Bundesrats zur Annahme des Gesetzentwurfs ja schon durch die Bundesratsvorlage selbst gegeben war. Wenn zufälliger Weise die Bundesratsvorlage genau den Interessen einer Reichstagsmehrheit entsprach und diese ihrer unveränderten Annahme im Reichstag in den drei Lesungen zustimmte, war eine Bundesratsvorlage also der einfachste Weg vom Gesetzentwurf zum Gesetz aus Sicht dieser Reichstagsmehrheit. Besonders schwierig aus Sicht einer Reichstagsmehrheit musste es wiederum sein, wenn sie selbst einen Gesetzentwurf aus einem Initiativantrag heraus in drei Lesungen erarbeitete und dann dem Bundesrat vorlegte. Denn selbst wenn sich für diesen Gesetzentwurf grundsätzlich eine Bundesratsmehrheit finden würde, könnte diese Mehrheit doch Änderungsanliegen für einzelne Stellen haben. Dann hätte diese Bundesratsmehrheit wiederum einen geänderten Gesetzentwurf annehmen und diesen erneut dem Reichstag vorlegen müssen, usw. Hierin unterschied sich die Lage von dem Gesetzgebungsverfahren zwischen heutigem Bundestag und Bundesrat, wo das Grundgesetz (GG) für die Klärung von solchen Änderungsanliegen u.a. den sog. 1. Durchgang beim heutigen Bundesrat nach Art. 76 II 2 GG und den Vermittlungsausschuss nach Art. 77 II 1 GG vorsieht. Stattdessen lenkte Art. 16 RV (Art. 16 VdNB) die Rolle des Bundesrats bei der Gesetzgebung in eine andere Richtung als die des Reichstags oder des heutigen Bundesrats: Lt. Art.16 RV wurden Bundesratsvorlagen dem Reichstag zugeleitet und dort bereits während der Verhandlungen des Reichstags "durch Mitglieder des Bundesrathes oder durch besondere von letzterem zu ernennende Kommissarien vertreten". Die Bundesratsvorlagen konnten also im Reichstag in der 1. Lesung beraten und einem Ausschuss zugeleitet werden Dort konnten Parlamentarier und Bundeskommissarien über den Gesetzentwurf in einen Austausch treten. Der entsprechende Ausschussbericht konnte dann bereits eine Fassung mit von den Bundeskommissarien als im Bundesrat mehrheitsfähig angesehene Änderungen enthalten. Entlang dieser Fassung konnten dann in der 2. Lesung Änderungen an der Bundesratsvorlagen vorgenommen werden. Damit wurde einerseitzs die Bundesratsvorlage geändert. Sie musste also nach Beschlussfassung durch den Reichstag dem Bundesrat erneut vorgelegt werden, damit "Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse" der beiden Kammern nach Art.5 I 2 RV herbeigeführt werden konnte. Die Erfolgsaussichten für diese Übereinstimmung mussten nach den Klärungen zwischen Reichstag und Bundesratskommissarien während der Reichstagsverhandlungen aber äußerst gut sein. Die 3. Lesung diente dann formell als durch die GORT verlangte Verabschiedung des Gesetzentwurfs und inhaltlich als Reserve für etwaige, z.B. erst in der 2. Lesung selbst, deutlich werdenden Änderungswünsche der Reichstagsmehrheit, die sinnvoller Weise ja erneut mit den Bundeskommissarien abzustimmen waren. Wenn eine so geänderte Bundesratsvorlage dann in der 3. Lesung vom Reichstag angenommen wurde, war die Zustimmung des Bundesrats in der Regel gesichert. Deshalb eigneten sich Bundesratsvorlagen verglichen mit Iniativanträgen auch besonders gut als Ausgangspunkt für die Gesetzgebung. Tatsächlich gelangten so gut wie alle Gesetze im Zeitraum 1867-1918 ursprünglich als Bundesratsvorlagen zum Reichstag, wurden dort in Abstimmung mit den Bundeskommissarien geändert und schließlich vom Bundesrat in dieser geänderten Fassung mitgetragen.

Reichsregierung und Bundesrat in der Gesetzgebung

Dies hatte eine bedeutende Konsequenz für die Funktionsweise der RV insgesamt. Sie war nämlich ein Ausgangspunkt für die eigenständige Rolle der (in der Verfassung schon als solche gar nicht erwähnten) Reichsregierung in der Gesetzgebung. Diese Rolle folgte aus der folgenden praktischen Umsetzung der Verfassungsregelungen. Der Vorsitz im Bundesrat "und die Leitung der Geschäfte" stand lt. Art. 15 S.1 RV (Art. 15 S.1 VdNB) dem Reichskanzler zu. Der Reichskanzler war wiederum im Zeitraum 1867-1918 nahezu immer auch Preußischer Ministerpräsident. Damit kontrollierte er i.d.R. auch die Stimmen Preußens im Bundesrat (s. unten). Wenn also Bundesratsvorlagen dem Reichstag zugeleitet und im Reichstag durch vom Bundesrat ernannte Kommissarien vertreten wurden, dann konnte der Reichskanzler direkt (über die Leitung der Geschäfte) und indirekt (als Preußischer Ministerpräsident) entscheiden über den Inhalt der Bundesratsvorlagen, den Zeitpunkt ihrer Vorlage beim Reichstag und die Personen, die als Bundeskommissarien für die einzelnen Bundesratsvorlagen mit dem Reichstag in Kontakt standen. Gem. Art.9 S.1 RV (Art.9 S.1 VdNB) konnte der Reichskanzler als Preußischer Ministerpräsident oder ein anderer preußischer Bundesratsbevollmächtigter sogar dann im Reichstag erscheinen "und jederzeit gehört werden, um die Ansichten seiner Regierung zu vertreten", wenn "dieselben von der Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt worden sind" - also wenn eine Bundesratsmehrheit sich gegen inhaltliche oder personelle Wünsche des Preußischen Ministerpräsidenten (und damit i.d.R. des Reichskanzlers) wenden sollte. Der Bundesrat war also ein verfassungsrechtliches Vehikel, mit dem der Reichskanzler faktisch eigene Gesetzentwürfe über den Bundesrat vor den Reichstag bringen und dort vertreten konnte. Dies konnte nach Art.15 S.2 RV im Bundesrat der Reichskanzler als Person tun oder durch Stellvertreter. Gegenüber dem Reichstag war dies nach §2 Gesetz betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17.3.1878 ebenfalls gegeben. Der Reichskanzler musste also nicht etwa persönlich für alle Gesetzesvorhaben im Reichstag oder Bundesrat erscheinen. Sondern er konnte dies delegieren. So entwickelte sich aus der Anwendung dieser Bestimmungen heraus im Gesetzgebungsverfahren eine zentrale Rolle der Reichsbeamten bzw. Reichsbehörden als ein Konglomerat von dem Reichskanzler verantwortlichen Staatsekretären und Spitzenbeamten des Reichs, welche die einzelnen Reichsbehörden ähnlich heutigen Ministern leiteten und gegenüber Bundesrat und Reichstag in Erscheinung traten. Faktisch erfüllten diese Personen unter Leitung des Reichskanzlers damit die für die moderne Verfassungswirklichkeit typische Funktion einer Regierung als eine an gesetzgeberischen - also im Kern politischen - Aufgaben führend beteiligte Organisation. Mehr noch, bedeutete dieses Verfahren eine starke Stellung der Reichsregierung in der Gesetzgebung auch gegenüber den Bundesstaaten. Durch den Bundesratsvorsitz des Reichskanzlers und die damit verbundenen ständigen Kontakte der Reichsregierung zu den Bundesstaaten im Bundesrat auf der einen Seite und zum Reichstag durch die Beteiligung an den Reichstagsverhandlungen auf der anderen Seite bildete die Reichsregierung auch das einzige Scharnier zwischen Bundesstaaten und Reichstag. Die Interessenvertretung einzelner Bundesstaaten bei der Gesetzgebung (abgesehen von bestimmen Sonderfällen, s.u.) geschah infolgedessen praktisch nur durch die Reichsregierung. Dadurch war der tatsächliche Einfluss der Bundesstaaten auf die Gesetzgebung wiederum nahezu unsichtbar - eine Bundesratsvorlage, die der Reichstag nur in geänderter Fassung annehmen wollte und zu deren entsprechender Änderung eine Bundesratsmehrheit nicht bereit war, lohnte im Reichstag ja die Behandlung über den jeweiligen Ausschuss hinaus schon nicht. Die Reichsregierung stand in der Gesetzgebung damit den Abgeordneten und Fraktionen im Reichstag und den Bundesstaaten (außer Preußen) im Bundesrat als eigenständige Spielerin gegenüber. Dies war den Beteiligten klar, sodass sich im Zeitverlauf für Bundesratsvorlagen auch der Begriff "Regierungsvorlagen" einbürgerte, nicht nur weil die Bundesratsvorlagen nach Art.16 RV im Namen des Kaisers eingebracht wurden, sondern vor allem auch, weil sie offenkundig in der Regel von der Reichsregierung erstellt und im Reichstag auch von Regierungsvertretern (und nicht Vertretern einzelner Bundesstaaten) vertreten wurden. Die Kombination aus den beschriebenen praktischen Vorteilen von Bundesratsvorlagen und deren faktischer Eigenschaft als Regierungsvorlagen ging spätestens ab den 1890er Jahren mit einer Dominanz von Bundesratsvorlagen gegenüber Initiativanträgen in den Gesetzgebungsverfahren einher. Dies ging soweit, dass die Abgeordneten zunehmend anstelle eigener Initiativanträge nur Anträge stellten, in denen die Regierung aufgefordert wurde, dem Reichstag Regierungsvorlagen zur Beschlussfassung zu unterbreiten.

Beschlussfassung im Bundesrat

Laut Art.6 II 1.Hs. RV (Art.7 I 1.Hs. VdNB) konnte jeder Bundesstaat so viele Bevollmächtigte zum Bundesrat ernennen, wie er Stimmen im Bundesrat hatte. Die Stimmabgabe konnte gem. Art.6 II 2.Hs. RV (Art.7 I 2. Hs. VdnB) durch die Bevollmächtigten zum Bundesrat für ihren Bundesstaat nur einheitlich erfolgen. Der Bundesrat beschloss gem. Art. 7 III RV (gegenüber der VdNB explizit) von den folgenden Ausnahmen abgesehen mit einfacher Mehrheit, wobei nicht vertretene oder nicht instruierte Stimmen nicht gezählt wurden (so auch Art. 7 I 2 VdNB). Es war also, anders als im heutigen Bundesrat, für die meisten Beschlüsse keine (absolute) Mehrheit aller Bundesratsstimmen erforderlich. Bei Stimmengleichheit - also bei gleich vielen Stimmen für und gegen einen Vorschlag - gab gem. Art.5 II RV (Art.5 II VdnB) die Stimme des Präsidiums den Ausschlag, wenn sie für die Erhaltung der bestehenden Einrichtungen stimmte. Laut Art.11 I 1 RV (Art.11 I VdnB) stand dieses "Präsidium" dem König von Preußen zu, der den Titel "Deutscher Kaiser" trug (in der VdNB war dieser Titel naturgemäß noch nicht genannt). Wenn in der RV von "Präsidialstimme" die Rede war, dann waren dies also die Stimmen Preußens im Bundesrat. Von diesen Regeln zur Beschlussfassung gab es drei Ausnahmen. Die erste Ausnahme lt. Art.7 III RV davon waren Beschlüsse über Verfassungsänderungen gem. Art. 78 RV (bzw. zuvor Art. 78 VdNB). Gem. Art. 78 I 2 RV galt hier eine Sperrminorität von 14 Stimmen (gem. Art. 78 VdNB von einem Drittel der Bundesratsstimmen, also von 15 Stimmen). Diese Sperrminorität erreichte Preußen als Bundesstaat allein (auch bereits unter der VdNB, da es mehr als ein Drittel der Stimmen führte), aber je gemeinsam auch die drei nächstbevölkerungsreichen Bundesstaaten Bayern, Sachsen und Württemberg, die vier süddeutschen Bundesstaaten Baden, Bayern, Hessen-Darmstadt und Württemberg (die alle Staaten umfassten, die nicht zuvor Mitglieder des Norddeutschen Bundes gewesen waren) und die 14 kleinen Bundesstaaten mit einem Landesfürsten als Staatsoberhaupt und je nur einer Bundesratsstimme. Die zweite Ausnahme lt. Art.7 II i.V.m. Art.5 II RV (auch bereits lt. Art.5 II VdNB) betraf zum einen Militär- und Kriegsmarineangelegenheiten. Unter dieser Ausnahme konnten keine Beschlüsse gegen die Präsidialstimme gefasst werden, wenn bei einer "Meinungsverschiedenheit" im Bundesrat (also nicht nur bei Stimmgleichheit) das Präsidium die "bestehenden Einrichtungen" erhalten wollte. Ebenso verhielt es sich lt. Art.7 II i.V.m. Art.37 RV (Art.37 II 2 VdNB) bei der Beschlussfassung über Verwaltungsvorschriften oder Einrichtungen zur Ausführung der in Art.35 RV (Art.35 VdnB) gelisteten Bereiche der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Reichs (bzw. Bundes lt. VdNB) im Zoll- und Handelswesen, darunter auch der Besteuerung von Salz, Tabak, Branntwein, Bier und Zucker. Entsprechend verfügte Preußen allein auch über eine Sperrminorität insbesondere in Militär- und Außenhandelsfragen und bei der Verwaltung wichtiger Einnahmequellen des Reichs gem. Art. 38 I RV (Art. 38 I VdnB). Die dritte Ausnahme bestand erst seit dem Gesetz über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 31.5.1911 (VEL). Sie bezog sich auf die Beschlussfassung bei den anderen beiden Ausnahmen. Für die Stimmen Elsass-Lothringens galt lt. Art. 6a II RV, dass sie dann nicht zu zählen waren, wenn es nur durch sie zu einer Mehrheit für das Votum der Präsidialstimme oder einem Patt und infolgedessen zum Auschlag der Präsidialstimme kommen würde (also in den Fällen des Art.5 II RV bei Stimmengleichheit). Ebenso zählten lt. Art.6a II RV die Elsass-Lothringischen Stimmen nicht für die Sperrminorität bei Verfassungsänderungen (die Fälle der ersten Ausnahme des Art.7 III RV). Hintergrund dieser dritten Ausnahme war - wie z.B. in den Beratungen im Reichstag dargelegt wurde (z.B. im Bericht der 21. Kommission der 2. Session der 12. Wahlperiode, Drs. 12/1032) - die Rolle des Kaisers als Elsass-Lothringisches Staatsoberhaupt gem. §1 VEL. Gem. §2 I VEL ernannte der Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers den Statthalter, also den Regierungschef von Elsass-Lothringen. Der Statthalter wiederum instruierte gem. §2 III VEL die Elsass-Lothringischen Bundesratsstimmen, d.h. er bestimmte das Abstimmungsverhalten der Bundesratsbevollmächtigten Elsass-Lothringens. Da der Kaiser gem. Art 11 I 1 RV aber eben der König von Preußen war und der Reichskanzler i.d.R. auch Preußischer Ministerpräsident, hätte es geschehen können, dass Preußen über entsprechende Instruierung der Elsass-Lothringischen Stimmen durch den vom Kaiser/König von Preußen und Reichskanzler/Preußischen MInisterpräsidenten berufenen Statthalter von Elsass-Lothringen ein zusätzliches Gewicht im Bundesrat erhalten hätte. Außerdem hätte die Reichsregierung über den Reichskanzler und dessen Rolle bei der Ernennung des Statthalter auch selbst einen personellen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten im Bundesrat erhalten. Die dritte Ausnahme schloss es zum einen aus, dass dieses mögliche zusätzliche Gewicht Preußens sich dann ausgewirkt hätte, wenn es genau auf diese zusätzliche Gewicht angekommen wäre - also wenn nur wegen der Elsass-Lothringischen Stimmen eine Abstimmung zugunsten Preußens ausgegangen wäre. Sie schloss es zum anderen aus, dass die Sperrminorität bei Verfassungsänderungen durch andere als die bisherigen Kombinationen von Stimmen erreicht werden konnte. Das war besonders im Sinne der süddeutschen Staaten. Auch dies wurde z.B. im Bericht der 21. Kommission angeführt, zusammen mit dem Hinweis, dass Elsass-Lothringen an der Verfassungsgebung (im Jahr 1867 bzw. 1871) selbst auch nicht beteiligt gewesen sei.

Stimmenverteilung im Bundesrat

Art. 6 I RV (bzw. zuvor Art. 6 I VdNB) legte die Verteilung der Stimmen im Bundesrat auf die Bundesstaaten per Auflistung der Bundesstaaten und ihrer Stimmen fest. Dabei war der Bezugspunkt für die Stimmenverteilung die Stimmenverteilung im Plenum des früheren Deutschen Bundes gem. Art. 6 I Bundesakte vom 8.6.1815 zum Stand bei der Zustimmung Österreichs zu dessen Auflösung am 23.8.1866. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 6 I RV, der "Preußen mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt" (letztere fünf verfügten im Plenum über 13 Stimmen, Preußen über 4) mit 17 Stimmen ausstattete. Holstein war von Österreich am 23.8.1866 an Preußen abgetreten worden. Die übrigen vier Staaten hatte Preußen am 1.10.1866 annektiert. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich durch das Erlöschen einiger Dynastien in kleineren Bundesstaaten im Zeitraum 1815-1863, darauf folgender Eingliederung dieser in andere Bundesstaaten und damit Entfallen ihrer Stimmen auch bereits einige Änderungen in der sonstigen Stimmenverteilung im Plenum des Bundesrats des Deutschen Bundes ergeben. Die übrigen 24 Bundesstaaten des Deutschen Reichs (bzw. zuvor die 21 Bundesstaaten des Norddeutschen Bundes) führten mit Ausnahme Bayerns Stimmen in genau der Anzahl, in der sie dies zuvor im Plenum des Deutschen Bundes getan hatten. Die Stimmenverteilung war also (über den nur noch historisch begründbaren Verweis von 1815 auf "Rücksicht auf die Verschiedenheit der Größe der einzelnen Bundesstaaten" des Art. 6 I Bundesakte hinaus) nicht z.B. an die konkrete Bevölkerungszahl der Bundesstaaten gebunden; anders als dies bei dem heutigen Bundesrat der Fall ist. So erhielt das Großherzogtum Hessen-Darmstadt, als sich bei Inkrafttreten der RV sein Gebiet innerhalb der Deutschen Reichs gegenüber seinem Gebiet innerhalb des Norddeutschen Bundes vergrößerte und damit wieder seiner Größe im früheren Deutschen Bund entsprach, erneut die drei Stimmen (statt nur einer unter der VdNB, diese eine mit Blick auf seine Gebiete nur innerhalb des Norddeutschen Bundes), die es bereits im Plenum des Bundesrats bis 1866 geführt hatte. Dazu kamen seit dem Gesetz über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 31.5.1911 durch den gleichzeitig in die RV neu eingefügten Art. 6a I RV weitere drei Stimmen für das Reichsland Elsass Lothringen (s. zu deren Berücksichtigung bei der Beschlussfassung unten).

      08.06.1815 22.8.1866 26.07.1867 16.04.1871 31.05.1911  
      Art.6 I Bundesakte (BA) Art.6 I BA mit seit 1815 eingetretenen Änderungen Art.6 I Verfassung des Norddeutschen Bundes (VdNB) Art.6 I Reichsverfassung (RV) Art.6 I RV i.V.m. Art.6a RV  
  Bundesstaaten des Deutschen Reichs            
    Königreich Preußen1 4 4 17 17 17  
    Königreich Bayern 4 4 - 6 6  
    Königreich Sachsen 4 4 4 4 4  
    Königreich Württemberg 4 4 - 4 4  
    Großherzogtum Baden 3 3 - 3 3  
    Großherzogtum Hessen(-Darmstadt) 3 3 1 3 3  
    Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin 2 2 2 2 2  
    Großherzogtum Sachsen-Weimar(-Eisenach) 1 1 1 1 1  
    Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz 1 1 1 1 1  
    Großherzogtum Oldenburg 1 1 1 1 1  
    Herzogtum Braunschweig 2 2 2 2 2  
    Herzogtum Sachsen-Meiningen(-Hildburghausen) - 1 1 1 1  
    Herzogtum Sachsen-Altenburg - 1 1 1 1  
    Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha - 1 1 1 1  
    Herzogtum Anhalt - 1 1 1 1  
    Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt 1 1 1 1 1  
    Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen 1 1 1 1 1  
    Fürstentum Waldeck 1 1 1 1 1  
    Fürstentum Reuß älterer Linie 1 1 1 1 1  
    Fürstentum Reuß jüngerer Linie 1 1 1 1 1  
    Fürstentum Schaumburg-Lippe 1 1 1 1 1  
    Fürstentum Lippe 1 1 1 1 1  
    Freie und Hansestadt Lübeck 1 1 1 1 1  
    Freie Hansestadt Bremen 1 1 1 1 1  
    Freie und Hansestadt Hamburg 1 1 1 1 1  
    Elsass-Lothringen (ab 31.5.1911 Land Elsass-Lothringen) - - - 0 3  
  Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes, die 1867 nicht mehr bestanden oder keine Bundesstaaten des Deutschen Reichs wurden    
    Kaisertum Österreich 4 4 - - -  
    Königreich Hannover 4 4 - - -  
    Kurfürstentum Hessen (Kurhessen/Hessen-Kassel) 3 3 - - -  
    Herzogtum Holstein 3 3 - - -  
    Großherzogtum Luxemburg 3 3 - - -  
    Herzogtum Nassau 2 2 - - -  
    Herzogtum Anhalt-Dessau 1 - - - -  
    Herzogtum Anhalt-Bernburg 1 - - - -  
    Herzogtum Anhalt-Köthen 1 - - - -  
    Fürstentum Hohenzollern-Hechingen 1 - - - -  
    Fürstentum Liechtenstein 1 1 - - -  
    Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen 1 - - - -  
    Freie Stadt Frankfurt 1 1 - - -  
    Sachsen-Gotha 1 - - - -  
    Sachsen-Coburg 1 - - - -  
    Sachsen-Meiningen 1 - - - -  
    Sachsen-Hildburghausen 1 - - - -  
  Insgesamt 69 64 43 58 61  
¹ab Geltung der VdNB mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt

Listung in Reihenfolge gem. Art.6 I RV und Art.6a RV, dabei Verwendung der Staatsbezeichnungen (z.B. "Königreich") gem. Präambel der RV bzw. der VdNB und der Verfassung von Elsass-Lothringen, der Gebietsbezeichnungen (z.B. "Preußen") gem. Art.6 I RV und ggf. Hinzufügung gebräuchlicher Zusätze zu den Gebietsbesetzungen in Klammern.

Zuletzt aktualisiert: 14.02.2021
Valentin Schröder
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