Deutschland vor 1918
Landtagswahlen
Reichsland Elsass-Lothringen

Entwicklung der Landesgesetzgebung und des Wahlrechts im Reichsland Elsass-Lothringen
Nach der Annexion Elsass-Lothringens 1871 wurde das Gebiet gemäß dem Vereinigungsgesetz vom 9.6.1871 als "Reichsland Elsass-Lothringen" in das Deutsche Reiche aufgenommen. Danach war das Reichsland eine reichsunmittelbar Gebietskörperschaft, also kein Gliedstaat wie die anderen Bundesstaaten. Die gesetzgebende Gewalt lag zunächst bei Kaiser und Bundesrat. Der Reichstag erhielt ein Gegenzeichnungsrecht. Die Regierungsgeschäfte für das Reichsland wurden dem Reichskanzler zugeordnet, dem gemäß Verwaltungsgesetz vom 30.12.1871 ein Oberpräsident unterstand.
Durch kaiserlichen Erlass vom 29.10.1874 wurde für die Gesetzgebung ein Landesausschuss eingerichtet. Dieser Landesausschuss bestand aus Delegierten der Bezirkstage Elsass-Lothringens. Jeder der 3 Bezirkstage wählte dafür 10 Mitglieder. Der Landesausschuss hatte jedoch zunächst nur beratende Funktion. Erst mit Gesetz vom 2.5.1877 wurde bestimmt, dass vorbehaltlich reichsgesetzlicher Regelungen der Landesausschuss ein Zustimmungsrecht für die Landesgesetze und den Landeshaushalt erhielt. Die politische Zusammensetzung des Landesausschusses ließ sich nicht ermitteln.
Mit Gesetz vom 4.7.1879 wurde zum einen die Zusammensetzung des Landesausschusses geändert. Er bestand nun aus 58 Mitgliedern. Davon wählten die Mitglieder des Bezirkstages des Oberelsass aus ihrer Mitte 10, die des Unterelsass 13 und die Lothringens 11. Vier Mitglieder wurden durch die Gemeinderäte von Straßburg, Mülhausen, Metz und Colmar und weitere 20 Mitglieder in den Landkreisen gewählt. Die Wahl in den Landkreisen war indirekt durch Wahlmänner aus den Mitgliedern der Gemeinderäte. Zum anderen erhielt der Landesausschuss nun das Recht, selbst Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen an die Landesbehörden zu überweisen. Jedoch behielt der Bundesrat das Vorschlags- und Zustimmungsrecht in der Gesetzgebung. Außerdem konnte die Zustimmung des Landesausschusses zu Gesetzesvorschlägen durch die Zustimmung des Reichstags ersetzt werden.
Erst mit der Verfassung des Reichslandes vom 31.5.1911 wurde ein mit vollen gesetzgeberischen Rechten ausgestatteter Landtag für das Land eingerichtet.

Der Landtag von Elsass-Lothringen, seine Kammern und die Zusammensetzung der Ersten Kammer
Mit dem Inkrafttreten der Verfassung des Reichslandes war der Landtag für Landesgesetze allein vorschlagsberechtigt. Landesgesetze wurden nun mit Zustimmung des Kaisers erlassen. Der Landtag bestand aus zwei Kammern. Nur die Zweite Kammer wurde vom Volk gewählt. In der Ersten Kammer waren vertreten:
-kraft Amtes die zwei katholischen Bischöfe, der Präsident des Oberkonsistoriums der Kirche Augsburgischer Konfession, der Präsident des Synodalvorstands der Reformierten Kirche und der Präsident des Oberlandesgerichts,
-durch Wahl durch die jeweilige Körperschaft je ein Vertreter der Universität Straßburg, der Israelitischen Konsistorien, der Städte Straßburg, Metz, Colmar und Mülhausen, jeder der vier Handelskammern; insgesamt sechs Vertreter des Landwirtschaftsrats, zwei Vertreter der Handwerkskammer und drei Vertreter der durch eine Arbeitervertretung zu repräsentierenden Arbeiterschaft sowie
-durch kaiserliche Ernennung nach Vorschlag des Bundesrats eine Anzahl in Elsass-Lothringen wohnhafter Reichsangehöriger, welche die Anzahl der anderen Abgeordneten der Ersten Kammer nicht überschreiten durfte.

Das Wahlrecht zur Zweiten Kammer
Die Zweite Kammer wurde durch allgemeine, geheime, gleiche und direkte Wahl durch alle seit mindestens drei Jahren in Elsass-Lothringen wohnhaften und mindestens 25 Jahre alten Reichsangehörigen gewählt. Für Inhaber öffentlicher Ämter, Religionsdiener und Lehrer an öffentlichen Schulen genügte ein mindestens ein Jahr andauernder Wohnsitz im Reichsland. Es galt das Absolute Mehrheitswahlrecht in insgesamt 60 Einer-Wahlreisen. Erzielte in einer Ersten Wahl keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit der Stimmen, fand eine Stichwahl statt. An dieser konnten nur die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen in der Ersten Wahl teilnehmen. Die erste und einzige Landtagswahl im Reichsland Elsass-Lothringen fand am 22.10.1911 (Erste Wahlen) und 29.10.1911 (Stichwahlen) statt.

Ergebnisse der Wahl zur Zweiten Kammer des Landtags am 22.10.1911 in Prozent
  SPD Unabhängig
Fortschrittlich
Liberal-
Demokraten
Unabhängig-
Liberal
ELZ Unabhängig-
Zentrum
Diverse
Rechte
Wirtsch.
Parteien
  Elsass-Lothringer EZB Zersp. Berechtigt % WBT Wähler % Ungültig %  
  Insgesamt LB - Liberale LB - ELZ ELN - ELZ LB ELN              
Oberelsass 33,3 - 11,7 7,7 31,6 4,8 1,0 -   7,7 - - 7,0 - 0,7 1,8 0,4 21,5 82,7 17,8 1,5  
Unterelsass 24,2 2,7 27,1 3,9 34,8 - 1,2 0,6   2,1 - - - - 2,1 3,2 0,2 22,4 82,1 18,4 1,8  
Lothringen 13,9 - 4,9 10,4 25,3 - - -   44,0 5,1 18,2 - 20,6 - 1,1 0,5 19,4 77,0 14,9 1,5  
Insgesamt 23,8 1,1 15,9 6,9 31,0 1,4 0,8 0,2   16,3 1,5 5,4 2,1 6,2 1,1 2,2 0,4 21,1 80,7 17,0 1,6  

-Unabhängig-Liberal: von den Liberal-Demokraten unterstützte unabhängige Kandidaten
-ELZ: Elsass-Lothringische Zentrumspartei
-Unabhängig-Zentrum: vom Zentrum unterstützte unabhängige Kandidaten
-Diverse Rechte: unabhängige, der ELZ nahe stehende Kandidaten
-Wirtsch. Parteien: unabhängige Wirtschaftliche Parteien
-LB-Liberale: von den Liberal-Demokraten unterstützte Kandidaten des LB
-LB-ELZ: von der ELZ unterstützte Kandidaten des LB
-ELN-ELZ: von der ELZ unterstützte Kandidaten des ELN
-LB: Lothringer Block, auch Lothringer Unabhängige Gruppe und Parti Lorrain Indépendant genannt
-ELN: Elsass-Lothringischer Nationalbund, auch Union Nationale d'Alsace-Lorraine genannt
-EZB: unabhängige Einzelbewerber

Mandatsverteilung in der Zweiten Kammer
  SPD Unabhängig
Fortschrittlich
Liberal-
Demokraten
Unabhängig-
Liberal
ELZ Unabhängig->br>Zentrum Diverse
Rechte
  Elsass-Lothringer Insgesamt  
  Insgesamt LB - ELZ LB    
Oberelsass 5 - 2 1 8 1 0   0 - - 17  
Unterelsass 6 1 4 2 9 - 1   0 - - 23  
Lothringen 0 - 1 2 7 - -   10 6 4 20  
Insgesamt 11 1 7 5 24 1 1   10 6 4 60  

-Unabhängig-Liberal: davon 1 Kandidat, der erst in der Nachwahl gewählt wurde und in der Nachwahl vom Zentrum unterstützt wurde, während die Liberal-Demokraten in dieser Nachwahl gemäß einer Stichwahlabsprache den konkurrierenden Kandidaten der SPD unterstützten
-Diverse Rechte: unabhängiger zentrumsnaher Kandidat

Ergebnisse der Wahl zur Zweiten Kammer des Landtags am 22.10.1911 in Stimmen
  SPD Unabhängig
Fortschrittlich
Liberal-
Demokraten
Unabhängig-
Liberal
ELZ Unabhängig-
Zentrum
Diverse
Rechte
Wirtsch.
Parteien
  Elsass-Lothringer EZB Zersp. Berechtigt Abgegeben Gültig Ungültig  
  Insgesamt LB - Liberale LB - ELZ ELN - ELZ LB ELN              
Oberelsass 29523 - 10378 6826 28052 4240 916 -   6870 - - 6230 - 640 1572 356 108919 90050 88733 1317  
Unterelsass 29495 3233 32987 4692 42439 - 1510 708   2606 - - - - 2606 3894 277 151059 124017 121841 2176  
Lothringen 12458 - 4394 9265 22610 - - -   39374 4609 16287 - 18478 - 990 419 118058 90906 89510 1396  
Insgesamt 71476 3233 47759 20783 93101 4240 2426 708   48850 4609 16287 6230 18478 3246 6456 1052 378036 304973 300084 4889  

Quellenverzeichnis
Statistisches Landesamt für Elsass-Lothringen 1911: Die Landtagswahlen von 1911 in Elsass-Lothringen. Sondernummer der Nachrichten des Statistischen Landesamts für Elsass-Lothringen. Straßburg: Druckerei der Straßburger Neuesten Nachrichten AG. S.5-37.

Die Gestaltung der Tabellen und die Angaben zu allen Ergebnissen in Prozent und zur Mandatsverteilung gehen auf eigene Berechnungen nach den Angaben in o.a. Quellen zurück.

Zuletzt aktualisiert: 02.01.2011
Valentin Schröder
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