Entwicklung der Landesgesetzgebung und des Wahlrechts im Reichsland Elsass-Lothringen
Nach der Annexion Elsass-Lothringens 1871 wurde das Gebiet gemäß dem Vereinigungsgesetz vom 9.6.1871 als "Reichsland Elsass-Lothringen" in das Deutsche Reiche aufgenommen. Danach war das Reichsland eine reichsunmittelbar Gebietskörperschaft, also kein Gliedstaat wie die anderen Bundesstaaten. Die gesetzgebende Gewalt lag zunächst bei Kaiser und Bundesrat. Der Reichstag erhielt ein Gegenzeichnungsrecht. Die Regierungsgeschäfte für das Reichsland wurden dem Reichskanzler zugeordnet, dem gemäß Verwaltungsgesetz vom 30.12.1871 ein Oberpräsident unterstand.
Durch kaiserlichen Erlass vom 29.10.1874 wurde für die Gesetzgebung ein Landesausschuss eingerichtet. Dieser Landesausschuss bestand aus Delegierten der Bezirkstage Elsass-Lothringens. Jeder der 3 Bezirkstage wählte dafür 10 Mitglieder. Der Landesausschuss hatte jedoch zunächst nur beratende Funktion. Erst mit Gesetz vom 2.5.1877 wurde bestimmt, dass vorbehaltlich reichsgesetzlicher Regelungen der Landesausschuss ein Zustimmungsrecht für die Landesgesetze und den Landeshaushalt erhielt. Die politische Zusammensetzung des Landesausschusses ließ sich nicht ermitteln.
Mit Gesetz vom 4.7.1879 wurde zum einen die Zusammensetzung des Landesausschusses geändert. Er bestand nun aus 58 Mitgliedern. Davon wählten die Mitglieder des Bezirkstages des Oberelsass aus ihrer Mitte 10, die des Unterelsass 13 und die Lothringens 11. Vier Mitglieder wurden durch die Gemeinderäte von Straßburg, Mülhausen, Metz und Colmar und weitere 20 Mitglieder in den Landkreisen gewählt. Die Wahl in den Landkreisen war indirekt durch Wahlmänner aus den Mitgliedern der Gemeinderäte. Zum anderen erhielt der Landesausschuss nun das Recht, selbst Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen an die Landesbehörden zu überweisen. Jedoch behielt der Bundesrat das Vorschlags- und Zustimmungsrecht in der Gesetzgebung. Außerdem konnte die Zustimmung des Landesausschusses zu Gesetzesvorschlägen durch die Zustimmung des Reichstags ersetzt werden.
Erst mit der Verfassung des Reichslandes vom 31.5.1911 wurde ein mit vollen gesetzgeberischen Rechten ausgestatteter Landtag für das Land eingerichtet.
Der Landtag von Elsass-Lothringen, seine Kammern und die Zusammensetzung der
Ersten Kammer
Mit dem Inkrafttreten der Verfassung des Reichslandes war der Landtag für
Landesgesetze allein vorschlagsberechtigt. Landesgesetze wurden nun mit
Zustimmung des Kaisers erlassen. Der Landtag bestand aus zwei Kammern. Nur die
Zweite Kammer wurde vom Volk gewählt. In der Ersten Kammer waren vertreten:
-kraft Amtes die zwei katholischen Bischöfe, der Präsident des Oberkonsistoriums der Kirche Augsburgischer Konfession, der Präsident des Synodalvorstands der Reformierten Kirche und der Präsident des Oberlandesgerichts,
-durch Wahl durch die jeweilige Körperschaft je ein Vertreter der Universität Straßburg, der Israelitischen Konsistorien, der Städte Straßburg, Metz, Colmar und Mülhausen, jeder der vier Handelskammern; insgesamt sechs Vertreter
des Landwirtschaftsrats, zwei Vertreter der Handwerkskammer und drei Vertreter der durch eine Arbeitervertretung zu repräsentierenden Arbeiterschaft sowie
-durch kaiserliche Ernennung nach Vorschlag des Bundesrats eine Anzahl in
Elsass-Lothringen wohnhafter Reichsangehöriger, welche die Anzahl der anderen
Abgeordneten der Ersten Kammer nicht überschreiten durfte.
Das Wahlrecht zur Zweiten Kammer
Die Zweite Kammer wurde durch allgemeine, geheime, gleiche und direkte Wahl durch alle seit mindestens drei Jahren in Elsass-Lothringen wohnhaften und mindestens 25 Jahre alten Reichsangehörigen gewählt. Für Inhaber öffentlicher
Ämter, Religionsdiener und Lehrer an öffentlichen Schulen genügte ein mindestens ein Jahr andauernder Wohnsitz im Reichsland. Es galt das Absolute Mehrheitswahlrecht in insgesamt 60 Einer-Wahlreisen. Erzielte in einer Ersten Wahl
keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit der Stimmen, fand eine Stichwahl statt. An dieser konnten nur die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen in der Ersten Wahl teilnehmen. Die erste und einzige Landtagswahl im
Reichsland Elsass-Lothringen fand am 22.10.1911 (Erste Wahlen) und 29.10.1911 (Stichwahlen) statt.
SPD | Unabhängig Fortschrittlich |
Liberal- Demokraten |
Unabhängig- Liberal |
ELZ | Unabhängig- Zentrum |
Diverse Rechte |
Wirtsch. Parteien |
Elsass-Lothringer | EZB | Zersp. | Berechtigt % | WBT | Wähler % | Ungültig % | ||||||||
Insgesamt | LB - Liberale | LB - ELZ | ELN - ELZ | LB | ELN | |||||||||||||||||
Oberelsass | 33,3 | - | 11,7 | 7,7 | 31,6 | 4,8 | 1,0 | - | 7,7 | - | - | 7,0 | - | 0,7 | 1,8 | 0,4 | 21,5 | 82,7 | 17,8 | 1,5 | ||
Unterelsass | 24,2 | 2,7 | 27,1 | 3,9 | 34,8 | - | 1,2 | 0,6 | 2,1 | - | - | - | - | 2,1 | 3,2 | 0,2 | 22,4 | 82,1 | 18,4 | 1,8 | ||
Lothringen | 13,9 | - | 4,9 | 10,4 | 25,3 | - | - | - | 44,0 | 5,1 | 18,2 | - | 20,6 | - | 1,1 | 0,5 | 19,4 | 77,0 | 14,9 | 1,5 | ||
Insgesamt | 23,8 | 1,1 | 15,9 | 6,9 | 31,0 | 1,4 | 0,8 | 0,2 | 16,3 | 1,5 | 5,4 | 2,1 | 6,2 | 1,1 | 2,2 | 0,4 | 21,1 | 80,7 | 17,0 | 1,6 |
-Unabhängig-Liberal: von den Liberal-Demokraten unterstützte unabhängige Kandidaten
-ELZ: Elsass-Lothringische Zentrumspartei
-Unabhängig-Zentrum: vom Zentrum unterstützte unabhängige Kandidaten
-Diverse Rechte: unabhängige, der ELZ nahe stehende Kandidaten
-Wirtsch. Parteien: unabhängige Wirtschaftliche Parteien
-LB-Liberale: von den Liberal-Demokraten unterstützte Kandidaten des LB
-LB-ELZ: von der ELZ unterstützte Kandidaten des LB
-ELN-ELZ: von der ELZ unterstützte Kandidaten des ELN
-LB: Lothringer Block, auch Lothringer Unabhängige Gruppe und Parti Lorrain Indépendant genannt
-ELN: Elsass-Lothringischer Nationalbund, auch Union Nationale d'Alsace-Lorraine genannt
-EZB: unabhängige Einzelbewerber
SPD | Unabhängig Fortschrittlich |
Liberal- Demokraten |
Unabhängig- Liberal |
ELZ | Unabhängig->br>Zentrum | Diverse Rechte |
Elsass-Lothringer | Insgesamt | |||||
Insgesamt | LB - ELZ | LB | |||||||||||
Oberelsass | 5 | - | 2 | 1 | 8 | 1 | 0 | 0 | - | - | 17 | ||
Unterelsass | 6 | 1 | 4 | 2 | 9 | - | 1 | 0 | - | - | 23 | ||
Lothringen | 0 | - | 1 | 2 | 7 | - | - | 10 | 6 | 4 | 20 | ||
Insgesamt | 11 | 1 | 7 | 5 | 24 | 1 | 1 | 10 | 6 | 4 | 60 |
-Unabhängig-Liberal: davon 1 Kandidat, der erst in der Nachwahl gewählt wurde und in der Nachwahl vom Zentrum unterstützt wurde, während die Liberal-Demokraten
in dieser Nachwahl gemäß einer Stichwahlabsprache den konkurrierenden Kandidaten der SPD unterstützten
-Diverse Rechte: unabhängiger zentrumsnaher Kandidat
SPD | Unabhängig Fortschrittlich |
Liberal- Demokraten |
Unabhängig- Liberal |
ELZ | Unabhängig- Zentrum |
Diverse Rechte |
Wirtsch. Parteien |
Elsass-Lothringer | EZB | Zersp. | Berechtigt | Abgegeben | Gültig | Ungültig | ||||||||
Insgesamt | LB - Liberale | LB - ELZ | ELN - ELZ | LB | ELN | |||||||||||||||||
Oberelsass | 29523 | - | 10378 | 6826 | 28052 | 4240 | 916 | - | 6870 | - | - | 6230 | - | 640 | 1572 | 356 | 108919 | 90050 | 88733 | 1317 | ||
Unterelsass | 29495 | 3233 | 32987 | 4692 | 42439 | - | 1510 | 708 | 2606 | - | - | - | - | 2606 | 3894 | 277 | 151059 | 124017 | 121841 | 2176 | ||
Lothringen | 12458 | - | 4394 | 9265 | 22610 | - | - | - | 39374 | 4609 | 16287 | - | 18478 | - | 990 | 419 | 118058 | 90906 | 89510 | 1396 | ||
Insgesamt | 71476 | 3233 | 47759 | 20783 | 93101 | 4240 | 2426 | 708 | 48850 | 4609 | 16287 | 6230 | 18478 | 3246 | 6456 | 1052 | 378036 | 304973 | 300084 | 4889 |
Quellenverzeichnis
Statistisches Landesamt für Elsass-Lothringen 1911: Die Landtagswahlen von 1911 in Elsass-Lothringen. Sondernummer der Nachrichten des
Statistischen Landesamts für Elsass-Lothringen. Straßburg: Druckerei der Straßburger Neuesten Nachrichten AG. S.5-37.
Die Gestaltung der Tabellen und die Angaben zu allen Ergebnissen in Prozent und zur Mandatsverteilung gehen auf eigene Berechnungen nach den Angaben in o.a. Quellen zurück.
Zuletzt aktualisiert: 02.01.2011
Valentin Schröder
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